My country, right or wrong – Prilepin und Ryvkin

Wer ist Zakhar Prilepin? Ein schäbiger Opportunist? Ein launisches literarisches Jahrhunderttalent? Oder einfach nur ein mit reichlich Testosteron ausgestatteter OMON-Schläger? Unser Autor Ilia Ryvkin kennt Prilepin, hat ihn im April 2013 in Berlin getroffen und verfolgt sein Schaffen seit Jahren. Zu seinem Roman Sankya, der in diesem Monat bei uns erscheint, hat Ryvkin dieses inoffizielle Vorwort verfasst.


Zakhar Prilepin macht mich wütend. In einer seiner Geschichten, die ich im Februar 2013 zufällig online lese, besucht der Autor geschäftlich ein kinderloses Paar in dessen Haus. Beiläufig beobachtet er, wie die beiden jeweils einen ganzen Teller randvoll mit Eclairs verzehren. Sofort lässt er sich darüber aus, wie grundverkehrt sie leben würden. Für Prilepin ist jeder Kinderlose über vierzig als Triebtäter verdächtig. Dazu noch Unmengen von Schokoladengebäck zu naschen gilt ihm als Gipfel der Dekadenz.

»Du arroganter Bulle«, denke ich. Prilepin hat seinen Wehrdienst bei der OMON geleistet, der Spezialeinheit der damaligen russischen Föderalmiliz. »Was stimmt nicht mit dir? Willst du fremden Leuten vorschreiben, was sie in ihrem eigenen Zuhause essen dürfen? Bist du erst zufrieden, wenn wir uns alle von Kohlsuppe und Wodka ernähren?«

Heute gilt Prilepin in Deutschland als rechtsextremer Propagandist. Merkwürdigerweise haben sich seine politischen Positionen seit jenem Jahrzehnt, in dem ihn das deutsche Feuilleton noch hofierte, kaum verändert. Er selbst zählt sich zum linken Flügel des politischen Spektrums – zur linkspatriotischen Opposition.

Das politische Koordinatensystem muss man für Westeuropäer erst einmal neu definieren. »Links« zu sein bedeutet in Russland nicht zwangsläufig, sich aus Scham, ein alter weißer Mann zu sein, klimaneutral selbst zu kastrieren. Während »rechts« noch vor Kurzem für Wirtschaftsliberalismus, Kapitalismus und Globalismus stand, verstand man unter »links« so etwas wie »sozial«, »volkstreu« und »patriotisch«.

Die Gründe für diese Verwirrung der Begriffe liegen im politischen Chaos der frühen 1990er, als Kommunisten und Nationalisten gemeinsam das erste demokratisch gewählte Parlament des Landes gegen den vom Westen unterstützten Staatsstreich Jelzins verteidigten. Der damalige Schulterschluss führte zur Gründung der von Eduard Limonow geführten Nationalbolschewistischen Partei mit ihrer Zeitung Limonka, die meine Generation maßgeblich geprägt hat.

Die Revolte der jungen Nationalbolschewisten thematisiert Prilepin in seinem erfolgreichen Roman Sankya, aus dem er im April 2013 in der Akademie der Künste am Pariser Platz in Berlin liest. Bei dieser Lesung lernen wir uns persönlich kennen.

Zunächst schwärmt eine russischsprachige Literatin, mittlerweile in den Westen ausgewandert, von ihrer verschwommenen Sehnsucht nach einer bunten Welt, in der es keine Grenzen mehr gibt. Danach tritt Prilepin, gedrungen und robust, auf die Bühne und liest aus seinem berüchtigten Roman. In einer Szene, in der bis zum Delirium gesoffen wird, wird ein Sarg mit einer gefrorenen Leiche im russischen Nirgendwo über riesige Schneewehen geschleppt. Aus dem Zuschauerraum kommt eine Frage nach dem imperialen Gehabe seines Heimatlandes. Er lächelt kurz. »Habt doch einfach mal ein bisschen Respekt vor unserer Andersartigkeit.« So erinnere ich mich an Prilepin.

Nach der Lesung stelle ich mich vor – als Literat, dessen Werdegang eng mit der nationalbolschewistischen Zeitung Limonka verbunden ist. Als er mich am nächsten Tag besucht, steht ein Teller randvoll mit Eclairs auf dem Tisch. Er versteht sofort den Witz, zielt mit dem Zeigefinger auf mich, ahmt einen Schuss nach und grinst. Wir laufen durch Berlin, sprechen über Gott und die Welt. Die meisten seiner Ansichten sind mir von vornherein klar; seine fundierten Kenntnisse der sowjetischen Literatur verblüffen mich, denn diese gilt im gebildeten Milieu als minderwertig. Über seine Sowjetaffinität streiten wir nicht. Seit den frühen 1990ern ist dieses Thema nicht mehr der Diskussion wert. Für uns alle ist der gemeinsame Feind das globale Kapital, und solange dessen grausame Herrschaft die Welt bedroht, lassen wir uns wegen irgendwelcher längst verstorbenen Massenmörder nicht spalten. Wer auch immer das Land regiert, das Volk bleibt doch das Gleiche. My country, right or wrong.

»Die russische Seele ruht wie die Kartoffeln im Keller«, schreibt Prilepin. Solch eine Metapher kann einem nur einfallen, wenn man aus einer Familie im russischen Hinterland stammt. In einer Nation, in der die zwei oberen Stände vernichtet worden sind und die neue Bourgeoisie, milde ausgedrückt, eher unrussisch ist, muss seine Stimme gehört werden. Ein anderes Russland habe ich derzeit leider nicht anzubieten.

Prilepin ist ein bodenständiger Typ, einer von der Sorte, die man im Internet als based bezeichnet. Für ihn ist ein Mann ein Mann, eine Frau eine Frau und Barack Obama ein Neger. Und Russland selbst – was verkörpert es für ihn? »Russland ist Revolution«, meint Sankya, der Protagonist des gleichnamigen Romanes. Es wäre klug von der Welt zu begreifen, was in diesen Jungs brennt – in jenen, die in der Moderne fehl am Platze sind, deren eiserne Würde zugleich national und proletarisch ist. Tut sie das nicht, wird die Welt ein Problem bekommen.

Die literarische Welt Russlands hat Prilepin im Sturm erobert. Sein 2005 erschienener erster Roman Patologii (»Pathologien«), der vom Tschetschenienkrieg handelte, wurde in sechs Sprachen übersetzt und gewann zahlreiche Auszeichnungen. 2006 zog er mit seinem nächsten Roman, eben Sankya, erneut internationale Anerkennung auf sich. Grech (»Die Sünde«) brachte Prilepin 2007 den russischen Buchpreis »Nationalny Bestseljer« ein. Und wenn das russische Feuilleton ihn auch vorher als einen »vielversprechenden Anfänger« bezeichnet hatte, war spätestens nach diesem Kurzprosaband wohl jedem klar, dass Prilepin gerade die eindrucksvollste literarische Karriere seit der Jahrtausendwende machte und alle je an ihn getätigten Vorauszahlungen vollumfänglich beglichen hatte.

2021 zählt Prilepin zu den drei beliebtesten Schriftstellern des Landes. Mehrere seiner Bücher und Kurzgeschichten werden mit großem Erfolg verfilmt. Seit 2017 tritt er mit der Autorensendung Uroki russkogo (»Russischunterricht«), die von Millionen Zuschauern gesehen wird, im Fernsehen auf. Darüber hinaus ist der Autor als regelmäßiger Talkshowgast zu einem der bekanntesten Gesichter Russlands geworden.

Er hat in den Vereinigten Staaten gelebt, ist durch ganz Europa gereist und hat in Italien und Deutschland Theaterstücke aufgeführt, die auf seinen Werken basieren. Seine Romane sind mittlerweile in 22 Sprachen übersetzt worden. Er ist Polizeibeamter gewesen, hat gerappt, in Kinofilmen gespielt, war Dramaturg an einem der großen Theater des Landes, hat eine linke Zeitung herausgegeben – Narodnyj obozrewatel, was aus dem Russischen wörtlich übersetzt »Völkischer Beobachter« heißt. Er ist für sein Land an die Front gegangen.

Im Mai 2023 entgeht Prilepin nur knapp dem Tod: In der Region Nischni Nowgorod zerreißt eine Autobombe seinen Wagen, sein Fahrer ist auf der Stelle tot. Laut den russischen Ermittlern hat der festgenommene Täter – ein ukrainischer Staatsbürger – im Auftrag des ukrainischen Inlandsgeheimdienstes SBU gehandelt. Eine Reaktion seitens der westlichen Menschenrechtscommunity, von Amnesty International, PEN und wie sie alle heißen, erwarte ich wegen dieses Anschlages nicht.

Die Figuren in Sankya und die Themen, die dieser Roman berührt, sind erfüllt vom glühenden Pathos der letzten Dinge, doch seine Sprache bleibt schlicht und manchmal ein wenig ungehobelt, wie die Kartoffeln im Keller.

Ein klein wenig sieht der Autor auch selbst so aus. Dennoch frage ich mich, ob diese nüchterne Sachlichkeit tatsächlich seinem Naturell entspricht oder ob er damit etwas kaschiert – eine verborgene sensible, poetische Ader? »Sachar Prilepins Kurzgeschichte ›Die Ader‹ ist ein poetischer Text, und diese Poetik ist nicht aufgesetzt, sondern organisch. Der Held der Geschichte ist von der Welt isoliert (›ein Fremder wie ein Meteorit‹), und diese Distanz zur Welt ist das Stärkste an der Geschichte. Die Fahrt mit dem Trolleybus, das Sonnenlicht – alle Details sind sehr subtil eingefangen«, so kommentierte einst Günter Grass. Wie auch immer, Prilepin steht jede Art von Camouflage gut.

Zakhar Prilepin hat mich erst einmal wütend gemacht. Im Nachhinein gefällt mir das. Man nimmt heutzutage zu viel hin. Vielleicht sollte man öfter wütend werden. Wie Prilepin gehöre auch ich zu einer Generation, in der sich Jungs noch auf der Straße geprügelt haben. Mütter und Lehrer waren davon nicht immer begeistert, doch hat die Auseinandersetzung alle Teilnehmer grundsätzlich stärker gemacht. Ich spreche hier nicht über den Totalen Krieg, den hoffentlich keiner will, eher über den Polemos, den die alten Griechen zum Vater aller Dinge erklärten.

Sich auseinandersetzen, auch einmal wütend werden, hinhören, miteinander reden – gerade in der heutigen Welt scheint das Gebot zu gelten: Zuerst braucht der Mensch Wasser zu trinken, dann Brot zu essen, die drittwichtigste Sache ist die deutsch-russische Verständigung. Man muss sich nachbarschaftlich miteinander auseinandersetzen. Viel gibt es zwischen uns nicht zu streiten – vielleicht nur darüber, wie man die Welt aufteilt.

(Autor: Ilia Ryvkin)

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